Die Sportgeschichte hat ihn vergessen, den norwegischen
Schnelläufer Mensen Ernst (1795-1843). Seinen Zeitgenossen
war der Abenteurer und Kosmopolit wegen seiner zahlreichen
spektakulären "Produktionen" ein Begriff. Innerhalb
von 14 Tagen zu Fuß von Paris nach Moskau zu laufen
war nur eine seiner herkulischen Leistungen. Raimund Wolfert
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Ein nicht gewöhnlicher Abenteurer und höchst eigentümlicher
Naturmensch, den eine ungekannte "Virtuosität im
Gehen" auszeichnete, war der Norweger Mensen Ernst in
den Augen seines zeitgenössischen Biographen, des schlesischen
Schriftstellers Gustav Rieck; aber auch ein gebildeter Geist
und "reiner, guter Mensch, der mehr für seine nothleidenden
Mitmenschen fühlt und bedacht ist, als auf sich selbst."
Der weitgereiste Schnelläufer aus dem Norden hatte den
Schlesier nachhaltig beeindruckt, als er ihn 1837 aufsuchte,
um ihn zu bitten, seine Lebensgeschichte niederzuschreiben.
Auf direktem Wege aus Hindustan kommend hatte er sich ihm
doch als "noch demüthiger als sein vernachläßigter
Rock" gezeigt. Kurze Zeit später setzte Rieck sich
daran, dem geneigten Leser ausführlichst Mitteilung über
Des Steuermannes Mensen Ernst aus Bergen in Norwegen Leben,
See-, Land- und Schnell-Reisen in allen fünf Welttheilen
(1838-39; 18412) zu machen. Die Worte "Bewegung ist Leben,
Stillstand der Tod" stellte er seiner barocken Schrift
als Wahlspruch anheim. Nach Rieck bildeten sie das Lebensmotto
Ernsts, dieses "nordischen Europäers" und "beispiellos
schnellsten Fußreisenden" mit einem "Herzen
voll Unruhe und wenig anderem Lebensgenusse als dem eines
Zugvogels, der nirgend sein Nest baut."
Außerhalb Norwegens ist Mensen Ernst heute fast völlig
vergessen - was erstaunt, hatte der ruhelose Bohemien, Globetrotter
und Kosmopolit doch das gesamte Leben als erwachsener Mann
außerhalb der Grenzen seines Heimatlandes verbracht.
Selbst Riecks deutschsprachige Biographie, die als Grundlage
für eine erst Jahre später erschienene gekürzte
norwegische Ausgabe diente, ist nur noch in zwei Exemplaren
bekannt: Während sich das eine in der Universitätsbibliothek
Oslo befindet, wird das andere in der Berliner Staatsbibliothek
verwahrt. Zu seinen Lebzeiten stand es um Ernsts Zelebrität
entschieden anders. Den Zeitgenossen war der Norweger wegen
seiner zahlreichen spektakulären Vorführungen in
ganz Europa ein Begriff. Als vermeintlich schnellster Mann
aller Zeiten und "Närrischer, oder wohl gar vom
Tfl besessener" wurde er zum Volkshelden, der es fertigbrachte,
innerhalb von 14 Tagen von Paris nach Moskau zu laufen. Doch
nicht genug damit. In einer Kombination von Langstrecken-,
Orientierungs- und Marathonlauf durchquerte Ernst fast alle
Länder der Alten Welt; er besuchte eine Vielzahl von
Städten und stellte sein Können in über siebzig
von ihnen unter Beweis. Seine "Produktionen" gab
er vor Königen, Paschas, Fürsten und Diplomaten
wie vor dem großen, anonymen Publikum, das ihn vergötterte.
Ernsts Lebensweg läßt sich heute leider nicht mehr
in Gänze mit Sicherheit dokumentieren. Riecks Schrift
über das ungewöhnliche Läufertalent hat sich
nicht in allen Punkten als zuverlässig erwiesen. Es kann
nicht ausgeschlossen werden, daß Ernst sich in Folge
des "geistig-flüssigen Sukkurs", den er beim
Erzählen im schlesischen Breslau reichlich genoß,
um einiges exotischer machte, als er de facto war. Zeitgenössische
Quellen wie das deutsche Universal-Lexikon der Gegenwart und
Vergangenheit (1843) leisten wenig Hilfestellung. Sie begnügten
sich meist mit lakonischen Eintragungen à la: "Mensen-Ernst,
Schnelläufer aus Norwegen gebürtig, der sich durch
seine Schnelligkeit seit etwa 1830 Renommée erwarb.
Er stand eine Zeit lang in Diensten des Fürsten Pückler-Muskau,
lief mit einem Stückchen Brot in der Tasche nach Constantinopel,
Jerusalem ec.; er st. 1838" - wobei die letzte Jahreszahl
erwiesenermaßen nicht einmal stimmt.
Neuere norwegische Recherchen haben Riecks Aufzeichnungen
aber in manchen Teilen bestätigen, beziehungsweise ergänzen
und korrigieren können. So gilt Mensen Ernsts Herkunft
inzwischen als verbürgt. Der Läufer wurde im Sommer
des christlichen Jahres 1795 unter dem Namen Mons Monsen øyri
im mittel-norwegischen Fresvik am Sognefjord geboren - nicht
in Bergen, wie Rieck behauptete. Wie seinerzeit üblich
wurde der Name des armen Hausmanns-Sohnes von seiten der dänisch-norwegischen
Beamtenschaft seines Heimatlandes "danisiert"; später
"anglifiziert", nachdem der Junge 1813 von Bergen
aus zur See gegangen war. Als abenteuerlustiger Seemann auf
englischen Schiffen besuchte er weite Teile der Welt, bis
er sich 1818 in London niederließ, um Kunstläufer
und Kurier zu werden.
Den ersten großen Lauf veranstaltete er bereits im Frühjahr
des folgenden Jahres. Die 116 Kilometer zwischen London und
Portsmouth legte er innerhalb von neun Stunden zurück.
Läßt man die stattliche Entfernung einmal außer
Betracht, erscheint die Durchschnittsgeschwindigkeit von knapp
13 km/h nach heutigen Maßstäben kaum aufsehenerregend.
Die besten Marathonläufer unserer Tage legen die klassische
Distanz von 42,195 km in knapp zweieinhalb Stunden zurück.
Vielleicht hätten Paavo Nurmi, Emil Zátopek, Uta
Pippig, Grete Waitz oder Haile Gebrselassie es Ernst gleichtun
können. Indes sollte der Lauf des Nordmanns von der englischen
Hauptstadt an die Kanalküste nur den Auftakt zu einer
ganzen Reihe bislang ungeahnter und nie wieder erreichter
Leistungen darstellen.
Denn schon bald wurde dem aufstrebenden Läufer England
zu klein. Auf der Suche nach neuen Herausforderungen begab
er sich 1820 auf den europäischen Kontinent. Von Cuxhaven
aus wanderte er "in seinem eigenthümlichen Sturmschritte"
über Hamburg, Rostock und Berlin nach Dresden, aber erst
in Thüringen erreichte er sein vorläufiges Ziel.
Zwischen Mühlhausen und Dingelstädt fand er bei
der Familie des Majorats-Herrn von Wedemeyr ein neues Zuhause.
Deren Rittergut Anrode stellte in den folgenden Jahren Ernsts
festen Bezugspunkt im Leben dar - den einzigen, den er finden
sollte, seit er Norwegen 18-jährig für immer verlassen
hatte. Nach Anrode kehrte er von seinen langen und anstrengenden
Fußreisen quer durch Europa immer wieder zurück.
Hier lernte er Deutsch (wobei er mit der Aussprache des Wortes
"Pferd" nach eigenem Bekunden die größten
Schwierigkeiten hatte), hier fand er einen engen Freund im
Sohn seiner Gastfamilie. Dennoch konnte die ländliche
Idylle Thüringens ihn nicht auf Dauer halten. 1824 wanderte
er über Kassel, Frankfurt am Main und Basel bis nach
Italien, wo er auch an öffentlichen Wettläufen teilnahm.
Ein Jahr später war er zurück in Anrode, doch blieb
er diesmal nur für einige Monate hier. Bereits zum Jahreswechsel
1825/26 lief er in Städten wie Kiel, Schleswig und Flensburg
und erzielte zum ersten Mal einträgliche Einnahmen aus
seinen Wettkämpfen. Es zog ihn aber weiter nach Kopenhagen,
wo er im Februar 1826 einen Lauf durchführte, der ihm
1.500 Taler einbrachte. Die "Excursion" war zuvor
gehörig angekündigt worden, so daß die königlichen
Garden kaum die herbeiströmenden Zuschauermassen zurückhalten
konnten. Unbestrittener Höhepunkt des Aufenthaltes in
der dänischen Hauptstadt war indes ein Lauf, den Ernst
auf dem Schloßplatz unter den Augen des Königs
absolvierte. Dreizehn Runden zu je 900 Schritten legte er
hier innerhalb von 21 Minuten zurück. Frederik VI. war's
zufrieden und schenkte dem Läufer 100 Taler.
Mensen Ernst war ein genuiner Reisender, der sich durch nichts
beirren ließ. In den folgenden Jahren ward er leichten
Fußes nicht nur in Deutschland, sondern auch in den
Niederlanden, England, Frankreich, Spanien und Portugal gesehen.
Nach einer längeren Seereise wanderte er 1827/28 gar
von Ägypten aus durch das damalige türkische Reich
und über mehrere Balkanländer zurück ins thüringische
Anrode. Mehrmals kam er dabei in prekäre Situationen;
soziale Unruhen und Tumulte herrschten manchenorts, Cholera
und Pest kreuzten immer wieder seinen Weg. Er passierte Wüstengebiete,
stieg über hohe Gebirge und durchschwamm wilde Flüsse
und tiefe Seen. Anfang der 1830er Jahre entschloß er
sich schließlich, das Äußerste zu wagen:
Er wollte innerhalb von 15 Tagen von Paris nach Moskau laufen.
Hauptmentor und -arrangeur seines Laufes war der Königlich
Schwedische Gesandte in der französischen Hauptstadt
Graf Gustaf Carl Fredrik Löwenhielm. Natürlich stand
bald ganz Paris Kopf, unter der Bevölkerung wurden fiebrig
Wetten abgeschlossen; sollte es dem verwegenen Läufer
gelingen, die russische Hauptstadt in der anberaumten Zeit
zu erreichen, sollte er 4.000 Francs erhalten. Für den
Tag seines Aufbruchs wurde der 11. Juni 1832 bestimmt.
Ernst war 37 Jahre alt und in bester Form, das Wetter günstig.
Frohen Mutes zog er morgens um kurz nach vier von dannen,
obwohl er noch des Abends zuvor in einer Taverne echten französischen
Weines genossen hatte, erreichte zwei Tage später Kaiserslautern,
segelte - wie er sich auszudrücken pflegte - auf seinen
"beiden eigenthümlichen Fregatten" durch die
deutschen Lande und Polen und kam schon am 19. Juni abends
an die russische Grenze bei Chelm. Es schloß sich eine
Terra incognita an: die weite russische Tiefebene mit ihren
einsamen Moorgebieten und endlosen Heidesteppen. Das nächste
Etappenziel war der große Strom Dnepr. Indes ging alles
wie geplant, bald erreichte Ernst Smolensk, ließ Wölfe
Wölfe sein und das karge Bergland um Vjasma hinter sich
und gelangte in das berühmte Dörfchen Borodino.
Hier hatte Napoleon nur zwanzig Jahre zuvor seinen Sieg über
den russischen General Kutusow errungen. Übermütig
und siegesgewiß wie er war, kehrte Ernst hier in ein
Wirtshaus ein und bestellte eine Flasche Rum. Das sollte ihm
aber Ursache ungeahnter Schwierigkeiten sein. Weil er kaum
Russisch sprach, versuchte er sich mit Händen und Füßen
verständlich zu machen, zog Grimassen und gebärdete
sich in den Augen des Wirtes gar sonderbar. Der zögerte
nicht lange und verständigte die Polizei, worauf Ernsts
Paß konfisziert, der Wandersmann in seinem "etiquettwidrigen
Rock" selbst aber ins örtliche Gefängnis geworfen
wurde. Glücklicherweise hatte die Arrestzelle einen Kamin,
so daß Ernst durch den Schornstein entfliehen konnte.
Zwar wurde er prompt entdeckt, aber einmal in seinem Element,
vermochte niemand ihn zu halten. Er war nicht umsonst der
schnellste Mann der Welt! Gesund und wohlbehalten traf er
am Vormittag des 25. Juni in der russischen Hauptstadt ein
- doch zu seinem großen Erstaunen war niemand hier auf
sein Kommen vorbereitet. Man erwartete ihn erst für den
nächsten Tag!
Als sich aber die Kunde von seinem mirakulösen Lauf herumsprach,
war Ernst ein gemachter Mann. Die Entfernung von 2.500 km
Luftlinie zwischen Paris und Moskau hatte er bei einer durchschnittlichen
Tagesleistung von über 170 km noch schneller als vereinbart
hinter seine Fersen gelegt. Nicht nur waren die ausgesetzten
4.000 Francs jetzt sein. Auf den Straßen der russischen
Hauptstadt jubelten ihm die Menschenmengen zu, er wurde von
Festbankett zu Festbankett gereicht, der Wein floß in
Strömen. Kaum anders war es einige Tage später in
St. Petersburg, wo er eine öffentliche "Produktion"
gab, der selbst Zar Nikolai I. Pawlowitsch nebst Gemahlin
beiwohnte. In Paris erscholl der Ruf "Vive le Coureur
de l'Europe, Mensen Ernst!" wie aus einem Munde.
Die Frage stellt sich indes, wie es dem erfolgreichen Läufer
immer wieder gelungen sein mochte, weite Strecken durch unwegsames
Gelände und unter widrigsten Witterungsbedingungen Tag
um Tag zu Fuß zu bewältigen. Weder Wüstensand
noch reißende Wasser, weder Wegelagerer noch wildes
Getier stellten für ihn ernsthafte Hindernisse dar; schließlich
lief er ja nicht nur von Paris nach Moskau! 1832 machte er
sich im Auftrag des bayerischen Königs von München
aus auf den Weg ins griechische Nauplion - eine Strecke, die
er innerhalb von 24 Tagen, 42 Minuten und 30 Sekunden zurücklegte.
Vier Jahre danach vollbrachte er wohl seine größte
Tat: Er lief in 59 Tagen von Konstantinopel nach Kalkutta
und zurück. Hernach ward er stolz "Adler der Wüste"
geheißen. Seinem Biographen brachte er von dieser Reise
zum schlüssigen Beweise ein 5. bis 6.000 Meilen getragenes
zerknittertes Papier mit: eine Asienkarte, auf der "eine
scharfe Federlinie durch alle berührten Punkte"
eingezeichnet war!
Daß Ernst über eine einzigartige Kondition verfügte
und wenig Schlafes bedurfte, muß notwendigerweise als
über alle Zweifel erhaben angesehen werden. Das Rätsel
seiner höchst denkwürdigen Meisterschaft bleibt
dennoch ungelöst. Gustav Rieck bietet in seiner Schrift
kaum Anhaltspunkte. Er beschrieb den Norweger poetisch, aber
kurz als kleinen, kräftigen Mann, dem eine "kindliche
Weiche" zu eigen war, "mit schon so früh weiß-melirten,
schlicht und weich über eine tief gefurchte Stirn herabhängenden
Haaren, - mit zwei Augen, welche ganz geschaffen seien, eine
unermeßne Weite in sich aufzunehmen". Vielleicht
lag der Schlüssel seines Erfolgs aber in seinem Lebensstil?
Ernst war nach den Worten des Schlesiers ein "natürlicher
Cyniker". Er schlief am liebsten auf harter Bank und
verachtete das weiche Federbett. Warme Speisen genoß
er selten oder nie und freute sich bei seinem Butterbrot -
in einem Wort: er war ein "Troglodit". Dem Wein
sprach der Nordmann allerdings, wie er Rieck reuig gestand,
gern und häufig zu.
Wie immer es sich damit auch verhielt; zeit seines Lebens
wähnte Ernst sich bei unverwüstlicher Gesundheit,
bis auch ihn schließlich das Schicksal aller Sterblichen
ereilte. Im ägyptischen Syene fand seine Lebensgeschichte
ihr jähes Ende. Der Läufer war erst kurz zuvor in
die Dienste des preußischen Fürsten von Pückler-Muskau
getreten, welcher schon zu seinen Lebzeiten als Gartenkünstler,
Schriftsteller und Globetrotter Weltruf genoß. In seinem
Auftrag sollte er die Quellen des Weißen Nils ausfindig
machen. Er lief 1842 von Muskau über Konstantinopel und
Jerusalem nach Kairo, doch sollte ihn 1.000 km weiter südlich
die Ruhr niederstrecken. Am 22. Januar 1843 sank er im heißen
Wüstensand Syenes plötzlich bewußtlos dahin.
Tags darauf wurde er von Touristen gefunden. Sein Leichnam
wurde noch an Ort und Stelle zur letzten Ruhe gebettet, ein
Grabstein darüber zu seinem Gedenken errichtet. Heute
liegen seine Gebeine mitsamt des Grabsteins vermutlich unter
den gewaltigen Wassermassen des Assuan-Staudammes begraben.
So endet die Geschichte von Mensen Ernst, dem "größten
Läufer aller Zeiten". Der geneigte Leser möge
für sich selbst entscheiden, inwiefern selbiger der herkulische
Ausnahmemensch war, als der er sich darstellte, oder vielmehr
ein zweiter Münchhausen, ein pfiffiger Geschäftsmann
und liebenswürdiger Scharlatan mit Hang zum Übertreiben,
der es trefflichst verstand, sein Läufertalent zu Markte
zu tragen. Wie unerhört Ernsts Reiseerinnerungen auf
einen Außenstehenden unweigerlich wirken mußten,
dessen war sich bereits sein Biograph Gustav Rieck im schlesischen
Breslau bewußt. Er übergab seine Blätter "nicht
ohne Besorgniß der hoffentlich milde urtheilenden Welt".
Die wohlfeil gesetzten Worte seiner Einleitung sprechen für
sich: "Sagt doch unser sich selbst so bewußte große
Göthe von seinem eignen, selbst abgebildeten Leben: Wahrheit
und Dichtung. Wie viel mehr muß es sodann bei niedern
Geistern und hier der Fall sein?"
http://www2.hu-berlin.de/skan/publ/publikationsreihen/nofo/962/962wolfe.html